Leni Werres

Der gelernten Fotografin Leni Werres [1897-1979] nähert man

sich sehr einfach durch die Betrachtung ihrer regelmäßig im

Kleinformat erstellten Bromölabzüge. Diese sind Kleinode er-

sten Ranges einer längst vergangen und vergessen geglaubten

Welt, die sich der Bonner Tochter eines begüterten Mineralwas-

serfabrikanten beim Wandern erschloss. Sie fordern nicht den

flüchtigen Blick, sondern ein stilles Verweilen, so etwa das hier

schlicht hinreissende Blatt „Weg zum Blauen“ - datiert auf das

Jahr 1924/25.

Flankiert von schlanken, geraden Fichtenstämmen führt ein Weg

durch den Wald. Der Weg steigt leicht an und läuft auf einen

hinter Bäumen versteckten Felsbrocken zu. Unterholz deutet sich

an. Die weit in den Bildraum nach hinten gestaffelten Bäume ver-

leihen dem Werk eine Ahnung von der Tiefe des Waldes. Die har-

monische Komposition lässt den Betrachter die Stille und den Frie-

den des Augenblicks spüren. Die Dunkelheit der Stämme im Vorder-

grund erhellen Lichtpunkte der Sonne, die den Hintergrund nahezu

völlig in gleissendes Licht tauchen. Da wirbt nicht allein pure Schön-

heit der Natur, zudem romantische Ausgestaltung des Bildes, was

beides an die qualitätsvollen Landschafts-Fotografien von Heinrich

Kühn (1866-1944) denken lässt. Da lockt auch das Haptische. Be-

trachtet man die Aufnahme etwas länger, so wirkt sie wie Samt,

dessen feine Härchen zum Anfühlen reizen. Die Struktur ist relief-

artig, mit winzigen Erhebungen und allerlei nahezu fühlbaren Fur-

chen.

Der Kenner sieht sogleich, dass es sich hier nicht um einen ge-

wöhnlichen Bromsilberabzug handelt, sondern um einen kunstvoll

ausgearbeiteten Edeldruck. Und wieder ist man in Gedanken so-

gleich bei Heinrich Kühn, der unter den Fotografen des Fin de

Siècle als genialer Vertreter für die künstlerischen Druckverfahren

gilt. Doch handelt es sich bei der vorliegenden Fotografie nicht um

ein Werk von Heinrich Kühn, sondern um das einer Frau, die in der

Perfektion der Ausführung und Gestaltung ihrer Bilder ebenbürtige

Meisterschaft erlangt hat. Der „Weg zum Blauen“ - gebannt Ende

der 1920er Jahre im Schwarzwald - stammt von Leni Werres. Mit

dem Werk teilt sich auch der von Walter Benjamin besagte Ver-

lust der Aura mit. Denn mit dem Ende der Edeldruckverfahren in

der Fotografie des Piktoralismus zur Jugendstilzeit endet deren

Versprechen einer kunstvollen Einmaligkeit, das fortan der Serie

wich.

Als Leni Werres dieses Bild schuf, musste sie sich mit der neu-

sachlichen Ästhetik messen. Sie galt den Vertretern dieser Rich-

tung als Anachronistin - da zu romantisch. So wichtig die Grund-

satzdebatte zwischen den Idealen des Piktoralismus und der Neuen

Sachlichkeit damals auch war. Erst heute - mit dem nötigen zeit-

lichen Abstand - können wir beide Stilepochen als gleichwertig

bestehen lassen, zumal die malerische Fotografie gerade eine Art

Renaissance erfährt. Inzwischen erstaunt es heute im Zeitalter

nach der Globalisierung kaum jemanden, wenn man sich etwa

als Anhänger der Romantik zu erkennen gibt. Und Heinrich Kühn,

der schon zu Lebzeiten Berühmtheit erlangte, erfährt in den letz-

ten Jahrzenten eine ungewohnte Aufwertung seines fotografischen

Schaffens.

Das Werk der damals jungen Leni Werres war indes gänzlich vom

Vergessen bedroht, hätten da nicht einige Zufälle den Nachlass

vor dem Verschwinden und der Zerstörung bewahrt. Ihre Fotogra-

fien gilt es nun zu entdecken. Leni Werres schuf ihr Werk mit der

Absicht des perfekten Bildaufbaus. Ihre Komposition geriet stets

meisterlich und stand stilistisch lange im Bann des Jugendstils und

ihres Vorbilds Heinrich Kühn. Als Meisterin ihrer Zunft verfügte Leni

Werres über den absoluten Blick beim Quadrieren der Komposition

im Sucher der Kamera. Das sieht man in jedem ihrer Werke. Auch

liebte sie das Spiel mit dem pittoresk groben Korn bei Bromoil-

druck und Gummidruck. Leni Werres entpuppt sich damit als die

letzte große Pointillistin der Fotografie ihrer Epoche - ein später

Wanderer zwischen Romantik und Moderne. Hierzu werden drei Aus-

stellungen - in den Jahren 2020, 2022, 2024 - als Werkschauen ge-

zeigt, die das Gesamtwerk der Leni Werres erstmals öffnen sollen.

 

Textauszug aus dem Essay "So weit nach Arkadien.. Leni Werres -
Fotografin zwischen Romantik und Moderne (1897-1979)" Essay von
Klaus Kleinschmidt

Abbildung: Leni Werres | Fischer bei Bonn am Rhein | Vintage Print
1924-25 | Silbergelatinabzug auf Originalkarton mit Signatur | 17,6
x 21,6 cm | Copyright and Courtesy: Kleinschmidt Fine Photographs
and the artist | Estate Leni Werres / Nachlass Leni Werres

Lichtbildner im Piktoralismus

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Kapelle, Kirche, Kloster

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Landschaft als Metapher

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